„Ich möchte Frauen auf der Flucht ein Gesicht geben“

„Ich möchte Frauen auf der Flucht ein Gesicht geben“

Tausende Frauen fliehen vor dem Krieg in der Ukraine. Sie müssen von einem Tag auf den anderen ihr Leben zurücklassen. Die Berliner Journalistin und Autorin Sandy Bossier-Steuerwald gibt ihnen eine Stimme.

Hi Sandy, warum hast Du das Projekt Frauen auf der Flucht gestartet?

Als Ende Februar der Krieg losging, wollte meine Familie sofort helfen. Mein Mann, meine Kinder und ich haben den Keller leergeräumt, Klamotten und Spielsachen gespendet, Kuchen gebacken für Flüchtlings-Cafés. Doch das allein hat mir nicht gereicht.

Ich wollte die Menschen auch mit meiner Leidenschaft fürs Schreiben unterstützen. Ich habe Publizistik und Europäische Ethnologie studiert und arbeite als Journalistin in Berlin – insbesondere interessieren mich Biografien und das Schreiben darüber in Form von Interviews und Porträts.

Daher kam mir die Idee, mit geflüchteten Frauen – aus gegebenem Anlass zunächst aus der Ukraine – zu sprechen. Mir ihre Geschichten erzählen zu lassen, um sie auf dem Blog Frauen auf der Flucht zu veröffentlichen. Ich verstehe das Projekt auch als eine Art Zeitdokument.

Was treibt Dich an? Was möchtest Du mit Deinem Projekt erreichen?

Ich möchte Frauen auf der Flucht ein Gesicht geben. Mir ist es wichtig, dass sich die  Hilfsbereitschaft, Betroffenheit und Empathie für die bewegenden Schicksale der Menschen nicht an einem sterilen Begriff wie dem der Flüchtlinge erschöpfen. Dieser Begriff abstrahiert und assoziiert andere Bewertungen und Zusammenhänge, als es die individuellen Geschichten ermöglichen.

Die Frauen, ihr Erleben und ihre Hoffnungen sind so vielfältig, mitreißend und jede für sich besonders. Die Frauen sehen sich in ihrer Identität oft nicht als Flüchtlinge. Vor einigen Wochen noch standen sie mit beiden Beinen im Leben, als erfolgreiche Kreativschaffende, hochdozierte Wissenschaftlerin oder Managerin eines internationalen Konzerns. Als agile Rentnerin, fürsorgliche Mutter oder liebende Partnerin.

Krieg in der Ukraine: Tausende Frauen und Kinder mussten schlagartig in andere Länder fliehen. Ihnen gibt Sandy eine Stimme (Bildquelle: Sandy Bossier-Steuerwald)

Plötzlich mit einem Schlag müssen sie in ein anderes Land fliehen, dabei sehnen sie durchweg ihr altes Leben zurück. Für diese besondere Situation möchte ich Menschen mit meinem Projekt sensibilisieren.

Wie ist die Resonanz auf Dein Projekt?

Ich treffe gewöhnliche Frauen, die in der Lage sind, außergewöhnliche Dinge zu erzählen und zu tun – und das ist es, worum es mir geht. Die Frauen wachsen oftmals aus sich heraus, sind sich dessen dabei gar nicht bewusst. Ich höre im Vorfeld nicht selten Zweifel wie: „Meine Geschichte ist nicht der Rede wert!“

Aber in und nach jedem Gespräch spüre ich eine große Dankbarkeit. Die Frauen fühlen sich gehört, gesehen und im Idealfall sogar verstanden. Dabei erzählen sie nicht nur über traumatische Erlebnisse aus dem Krieg, sondern eben auch Positives – sie blicken nach vorne, sind mutig und kraftvoll. Auch die Leser geben mir gutes Feedback, wie kürzlich auf Instagram: „Der Krieg in der Ukraine bekommt durch Ihre Interviews eine andere Dimension, er hört auf wahllos zu sein!“ Das bestärkt mich sehr.

Darüber hinaus beginnt sich das Projekt zu einer Schnittstelle zu entwickeln: Freiwillige Helfer und Hilfsorganisationen werden auf Schicksale aufmerksam und fragen mich, wie sie helfen können. Die Geschichten der Frauen sind teilweise direkt verknüpft mit sensiblen Themen wie Menschen mit Behinderung oder Kriegswaisen, die noch in der Ukraine sind. Vielleicht kann ich insofern auch indirekt mit „Frauen auf der Flucht“ helfen, die Öffentlichkeit auf Problemfelder aufmerksam zu machen.

Gibt es eine Geschichte, die Dich besonders beeindruckt hat?

Die 39-jährige Inessa lebte vor einigen Wochen noch glücklich in Kiew –gemeinsam mit ihrem Mann, ihrer Mutter und ihren Kindern Alex (16) und Anna (7). Dann begann der Krieg und in der Nachbarschaft explodierten Landminen. Inessa packte die Koffer und floh mit Alex nach Deutschland. Der Mann, die Mutter und Anna, die mit zerebraler Lähmung im Rollstuhl sitzt, blieben in der Ukraine.

Inessa im Interview: Der größte Traum der 39-Jährigen ist es, dass ihre Tochter endlich nach Deutschland kommen kann (Bildquelle: Sandy Bossier-Steuerwald)

Es war unfassbar bewegend, als Inessa mit zitternden Händen erzählte, wie sie dreimal pro Tag Zuhause anruft, um mit ihrer Familie zu sprechen, Anna selbst aber wegen ihrer Behinderung nicht antworten kann. Ihr größter Traum ist es, dass ihre Tochter endlich nach Deutschland kommen kann. Sowas bewegt.

Was ist für die Zukunft geplant?

Bislang habe ich acht Frauen interviewt, die aus der Ukraine geflohen sind. Ich möchte das Projekt zeitlich erweitern, vielleicht auch regional um weitere Herkunftsländer. Weltweit sind so viele Frauen auf der Flucht. Um mit ihnen in Kontakt zu treten, habe ich meine Fühler in alle Richtungen ausgestreckt. Ich habe mich im eigenen Freundeskreis umgehört und in sozialen Netzwerken recherchiert. Nach den Interviews geben mir manche Frauen auch Kontakte von Freundinnen weiter.

Aber viele Frauen haben verständlicherweise Angst und so ist es manchmal gar nicht so leicht, neue Gesprächspartnerinnen zu finden. Daher freue ich mich über jeden Tipp, jede Vermittlung und die Weitergabe meines Kontakts.

Vielen Dank für das Gespräch, Sandy!


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